Auch Tiere haben eine Seele

von Ramona
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Auch Tiere haben eine Seele




„Cat, nicht so schnell, wo willst du hin? Pass doch auf die Autos auf, Schatz. Die sind so viel größer als du.“
„Mach dir keine Sorgen.“
Keck streckte sie ihren buschigen Schwanz in die Höhe und flitzte geschickt zwischen den geparkten Autos hindurch – er immer hinterher.
„Vorsicht, die Straße!“
Er hatte sie aus den Augen verloren. Auf der Straße lauerten die größten Gefahren. Dort gab es diese großen, dröhnenden Dinger, die da Autos hießen. Doch die waren gefährlich, für so kleines Fußvolk wie sie.
Er musste sie dringend aufhalten, sie war doch noch so klein und naiv.
Aber diese ständige Aufregung vertrug er auch nicht mehr. Seine Knochen wurden schließlich auch nicht jünger. Und dann diese unvernünftige Rasselbande – ständig hatte sie nur Unsinn im Kopf. Allen voran die Jüngste.


Plötzlich hörte er ein Quietschen, einen Knall und ein bedrohliches Knirschen. Leute schrien erschreckt auf und wütende Männerstimmen drangen zu ihm hinüber. Was war nur geschehen? Er sauste los, blitzschnell hinüber zum Ort des Geschehens. Zwischen den vielen Beinen konnte er sich geschickt vorbeidrücken. Dann gab die Menge den Blick auf sie frei. Sie lag am Boden, regungslos, aber wunderschön. Wie sich die Sonne auf ihrem glänzenden Fell spiegelte und sie in alle Richtungen zu leuchten schien.
Er stürzte auf sie zu. Als er sie erreicht hatte, stupste er sie vorsichtig mit der Nase an.
Sie regte sich nicht.
„Cat? So wach doch auf! Du liegst hier mitten auf der Straße. Dir kann doch hier so viel passieren.“
Ein rüder Einwurf kam aus unbestimmter Richtung von oben: „Schafft doch endlich die blöden Viecher von der Fahrbahn!“
Er fauchte wütend, plusterte sich ganz dick auf und stellte sich dann schützend vor sein Kind.
Die Verzweiflung machte ihn mürbe. Konnte er denn nichts tun?
Ganz zärtlich und vorsichtig begann er schließlich, mit all seinen vier Pfoten auf ihre Brust zu steigen und zu massieren. Immer eine Pfote nach der anderen. Langsame, kreisende Bewegungen.
Doch es war zwecklos. Er musste zusehen, wie seine jüngste Tochter unter ihm ihr Leben aushauchte.
Er leckte ihr über das Fell. Etwas staubig war es. Wahrscheinlich kam das von der Straße. Sauber sollte sie sein.
Wie oft hatte er sie gerügt. Warum musste das Leben seiner Jüngsten nur auf so grausame Weise beendet werden? Er war kaum mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch er hatte noch eine gewisse Pflicht gegenüber ihr. Er konnte nicht zulassen, dass diese neunmalklugen Zweibeiner die angebrachte Trauerruhe störten.
Er setzte sich traurig an ihre Seite um zu wachen und stimmte ein herzzerreißendes, klagendes Maunzen an.
Es beugte sich ein Kind in lächerlicher rosa Tracht zu ihm hinunter und wollte seinem liebsten Herzensgut an die Nase fassen. Er fauchte warnend.
Erschrocken fuhr das Mädchen hoch: „Mami, warum schläft die Katze mitten auf der Straße?“
„Die Katze hat bestimmt nicht ordentlich geguckt, als sie über die Straße ging. Und schau, hier ist auch keine Ampel. Lass uns da drüben auf die andere Seite gehen!“


„Papa? Papa, wo bist du? Warum weinst du denn bloß? Bitte hör auf! Warum holst du mich nicht hier runter? Ich will nicht mehr spielen. Es tut mir doch leid, ich möchte auch nie mehr weg rennen. Bitte, Paps, bitte weine nicht. Es geht mir doch prima.
Ich weiß auch nicht, warum ich hier oben und du da unten bist.
Es tut mir doch leid.
Das war doch nicht mit Absicht. Woher sollte ich denn wissen, dass dieses blöde Ding so schnell ist? Eigentlich hätte ich die andere Straßenseite rechtzeitig erreicht. Vielleicht hat der Mensch mich bloß übersehen.
Oh bitte Papili. Weine nicht.
Mir geht es gut und ich fühle mich… Fühle mich so wunderbar leicht. Wenn ich ehrlich bin: Es ging mir nie besser.
Warum hört denn dieser blöde Typ nicht auf zu schreien? Sieht der nicht, dass es dir nicht gutgeht?
Es wird bestimmt alles gut, lieber Papa.
Ich bin gesund, aber irgendwie habe ich auf einmal Angst.
Kannst du mich denn nicht hören?
Ich habe große Angst. Warum bin ich nicht bei dir da unten. Warum kann ich dich nicht trösten – ich bin doch gesund.
Was bin ich? Wo bin ich? Warum hörst du mich nicht?
Bitte, mach dass es aufhört. Lass uns einfach nach Hause laufen. Ganz schnell.“


Sie hörte sein klägliches Maunzen. Sie erreichte ihn aber nicht. Und es schien, als würde der Boden plötzlich immer weiter weg sein. Und es wurde alles kleiner unter ihr. Doch sie hörte ihren Vater rufen:
„Ich werde immer bei dir sein. Ich werde dich nie vergessen. Ich bin dir nicht böse, mein Liebling.“


Und da hatte sie auf einmal keine Angst mehr.

©Ramona Nicklaus

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4 Kommentare

Heike 26. Mai 2010 - 22:22

Puh, das ist starker Tobak! Vielen Dank für die eindringliche Geschichte. Auch wir haben einen Kater, doch der ist zum Glück scheu und vorsichtig …

Antwort
Ramona 27. Mai 2010 - 9:54

Bitteschön…

Na ein Glück!!
Hier in unserer Straße kennen die Katzen aber keine Hemmungen. Die rennen munter rüber, egal wie viele Autos da kommen und wie nah die schon sind…

Antwort
Lea Korte 29. Mai 2010 - 19:35

Gratuliere! Sehr schöne, sensibel erzählte Geschichte!
Herzlich
Lea Korte

Antwort
Ramona 29. Mai 2010 - 19:37

Vielen Dank, liebe Lea! 🙂

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